Heimsheim
Enzkreis -  06.06.2024
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4,5 Quadratmeter Deutschland: So beengt leben manche Flüchtlinge in der Region

Enzkreis/Kreis Calw. Wenn die Kinder der Familie Ahmadi (Name geändert) pünktlich in die Schule kommen wollen, müssen sie flink aus dem Bett sein. Nicht, um den Schulbus zu erwischen, sondern um rechtzeitig das Badezimmer zu reservieren, bevor die Kinder der anderen afghanischen Familie wach sind, mit denen sich die Ahmadis eine Wohnung teilen. 90 Quadratmeter misst die Wohnung im Enzkreis, die sich die fünfköpfigen Ahmadis mit einer weiteren fünfköpfigen Familie teilen, die vorher Fremde für sie waren. Ein Extremfall. Die PZ zeigt, wie viel Wohnfläche Geflüchteten im Schnitt zur Verfügung steht. Und warum der Wechsel in die eigene Wohnung so schwer ist.

Die Ahmadis schlafen, essen, lernen und leben in einem Zimmer, das geschätzt rund 18 Quadratmeter groß ist. Zieht man die Dachschrägen an drei der vier Wände ab, sind es deutlich weniger. Rundherum im Raum stehen zwei Betten und liegen drei lose Matratzen. Der Boden ist landestypisch mit Teppichen ausgelegt. Kein Tisch hat hier Platz, schon gar kein Schreibtisch. Die Kleidung ist in Koffern unter den zwei Betten verstaut.

Seit über einem Jahr leben die Ahmadis so. Seit sie im Februar 2023 nach Deutschland geflohen sind. „Wir sind nicht zufrieden, die anderen sind auch nicht zufrieden. Es kommt immer wieder zu Problemen, das ist normal in so einer Situation. Wir ertragen es halt“, sagt der Vater. Eine neue Wohnung finden sie trotz langer Suche und der Anstrengung einer engagierten Flüchtlingshelferin nicht. Dabei wären sie mit wenig zufrieden. Ein Vermieter einer kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung hat allerdings abgewunken, als er erfahren hat, wie viele Personen dort einziehen wollen. Für die Ahmadis wären es nicht mehr Quadratmeter, aber ein Stück mehr Privatsphäre gewesen.

Besonders schwierig ist die Wohnungssuche, weil es nur wenige Flüchtlingshelfer gibt, die unterstützen können. So spricht die Flüchtlingshelferin aus dem Enzkreis, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will, davon, dass viele Freiwillige mittlerweile abgesprungen sind. Und ohne Unterstützung – so stimmt auch Flüchtlingshelfer Tino Bayer aus Schömberg zu – „ist es für Flüchtlinge so gut wie unmöglich, eine Wohnung zu finden.“ Denn die Vermieter wollen Sicherheit. Erst wenn jemand da ist, der die Menschen betreut und bei Fragen als Ansprechpartner bereitsteht, seien Vermieter bereit, an Geflüchtete zu vermieten.

Die eigene Wohnung: Das ist der sehnsüchtige Wunsch aller Geflüchteten, sagt Bayer. Damit verbessere sich der Lebensstandard signifikant gegenüber den Sammelunterkünften. Die Statistik gibt ihm Recht: In einer Sammelunterkunft stehen jedem Geflüchteten laut Asylbewerbergesetz in Baden-Württemberg derzeit mindestens 4,5 Quadratmeter Wohnraum zu. „Alle wollen so schnell wie möglich da raus“, sagt Bayer, der die Sammelunterkünfte in Schömberg und Calw-Wimberg, wo er Geflüchtete betreut, allerdings als sehr ordentlich und gut beschreibt. Verlassen die Menschen die Sammelunterkunft, steigt ihre Wohnfläche enorm. In einer Kurzanalyse des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) gaben im Jahr 2018 befragte Flüchtlinge an, in einer eigenen Unterkunft durchschnittlich 23 Quadratmeter pro Person zur Verfügung zu haben. Bei einer Umfrage unter ukrainischen Geflüchteten im Jahr 2021 gaben die Befragten an, durchschnittlich 21 Quadratmeter Wohnfläche zur Verfügung zu haben. Demgegenüber liegt der Schnitt in der gesamten bundesdeutschen Gesellschaft bei 47,4 Quadratmeter Wohnfläche pro Person.

Privatsphäre und mehr Quadratmeter ermöglichen dabei nicht nur ein komfortableres Dasein. Sie sind auch elementar, um im Leben weiterzukommen. Das merken die Kinder der Ahmadis, wenn sie aus der Schule kommen. Konzentriertes Lernen ohne Schreibtisch auf dem Boden während jemand anderes TV sieht oder die Kinder der anderen Familie Lärm machen: unmöglich. Und auch die Eltern sollten nach ihrem Deutschkurs am Vormittag eigentlich vier Stunden pro Tag lernen, erzählt der Vater. Ruhe dafür gibt es in der Wohnung kaum.

Das sei mit das größte Problem der mangelnden Privatsphäre, sagt auch Bayer. Wenn jemand aus einer Sammelunterkunft einen Job gefunden hat, die Mitbewohner im Zimmer aber bis spät in die Nacht wach seien, dann funktioniere das einfach nicht. Gerade die, die eine Ausbildung gefunden haben und morgens früh rausmüssen, brauchen ein eigenes Zimmer. „Für die ersten paar Monate geht das, so eng zu leben“, sagt Bayer, „aber für richtige Integration braucht es mehr Platz.“

Autor: heg

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