Unterwegs mit dem Notarzt in Pforzheim: „Irgendwann lernt man, dass der Tod dazugehört“
Enzkreis/Pforzheim. Plötzlich muss es schnell gehen. Piepser schrillen – darauf zu lesen: eine Adresse, der Name einer Frau, und: „Sturz“. Keine 20 Sekunden später sitzen Notarzt Dr. Christian Roser und Notfallsanitäter Martin Treutner vom Arbeiter-Samariter-Bund (ASB) im Fahrzeug, schalten Blaulicht und Martinshorn ein und brettern los in Richtung Pforzheimer City. „Wir haben keine Ahnung, was uns erwartet“, sagt Roser, der Hausarzt in Remchingen ist. „Sturz“ – das kann vom Stolpern auf dem Gehsteig bis zum Sprung aus dem dritten Stock alles bedeuten. Die PZ ist einen Tag bei den Notarzt-Rettern mitgefahren.

Es geht im Eiltempo über rote Ampeln, vorbei an staunenden Kinderaugen und notdürftig ausweichenden Autos. „Eine große Gefahr ist, dass manche Autofahrer hibbelig werden, wenn das Blaulicht angefahren kommt“, sagt Treutner, der den Wagen gekonnt durch die Innenstadt manövriert. Einmal sei ein Fahrer in den Gegenverkehr ausgewichen, da hätte es fast gekracht. „Das wichtigste ist: ruhig bleiben und nicht in einer Kurve, sondern an einer sicheren Stelle ausweichen. Da hilft manchmal auch Gasgeben, statt abrupt anzuhalten.“
Ankunft am Ort des Geschehens: eine Bäckerei in Pforzheims Süden. Eine Frau sitzt auf dem Boden. Ihr Fuß steht im rechten Winkel vom Bein ab. „Ohje, da müssen wir nicht lange überlegen, um zu wissen, dass da etwas nicht so ist, wie es sein soll, oder?“, sagt Roser zu der Frau. Sie lächelt. Sanft spricht er auf die 52-Jährige ein, die hier arbeitet und auf einem Rollwagen ausgerutscht ist. „Humor ist wichtig“, sagt Roser: „Das gibt den Patienten das Gefühl, dass der Arzt alles im Griff hat.“ Bevor er den Fuß untersucht, gibt es eine Narkose für die Patientin. Sonst wären die Schmerzen viel zu stark. Mithilfe der Größe und des Gewichts der Frau rechnet Roser die Medikamenten-Dosis aus, die Treutner sofort zusammenstellt. Währenddessen haben die Kollegen vom DRK, die mit dem Rettungswagen bereits vor Ort sind, bei der Frau schon einen Zugang gelegt. Alle arbeiten Hand in Hand. Wenig später ist die Verletzte weggetreten. Der Fuß wird geschient und die Frau in den Rettungswagen verladen. Nächste Station: die Notaufnahme des Helios Krankenhauses.
Dort übergibt Roser die Patientin an die Unfallchirurgie. Im Fachjargon-Stakkato werden die Befunde rasend schnell an den diensthabenden Kollegen weitergegeben. Damit endet die Aufgabe des Notarzt-Teams. Es geht zurück auf die Wache. Ein Routineeinsatz.
Aber nicht jeder Alarm entpuppt sich als harmloser Beinbruch. Als Treutner und Roser das letzte mal zusammen eine 12-Stunden-Schicht hatten, wurden sie in ein Restaurant in der Innenstadt gerufen. Ein Kind hatte einen Krampfanfall. Auch mit Medikamenten können die Retter den Krampf nicht lösen. Die Lage spitzt sich zu: das Kind in Lebensgefahr auf dem Restaurant-Tisch, drumherum überall Gäste – und kein Rettungswagen verfügbar. „Das war brenzlig“, erinnert sich Roser. Als endlich ein Rettungswagen in die Straße einbiegt, muss es schnell gehen. „Ich habe das Kind auf dem Arm rausgetragen. Dann hat es plötzlich aufgehört zu atmen.“ Die Fahrer des Rettungswagens übersehen den Notarzt, er schreit, aber sie hören ihn nicht. Roser rennt zum Wagen und tritt mit aller Kraft dagegen. Seitdem hat der Rettungswagen eine Delle – die Christian-Roser-Gedächtnis-Delle. Das Kind überlebt.
„Auch wenn man mit der Zeit abhärtet, sowas vergisst man nicht so schnell“, sagt Roser. „Man darf die Dinge nicht mit nach Hause nehmen“, sagt Treutner. Suizide, Unfallopfer, leidende Menschen, verzweifelte Angehörige. Die Retter brauchen ein dickes Fell. „Irgendwann lernt man, dass der Tod dazugehört. Dass er nur ein weiteres Ereignis auf der Lebensleiter ist“, sagt Roser. Gespräche mit Kollegen helfen. Helfen sie nicht mehr, steht ein Seelsorger bereit.
Trotz allem lieben die beiden ihre Arbeit beim ASB, der neben dem Deutschen Roten Kreuz für die Notarzt-Dienste in Pforzheim und Enzkreis zuständig ist. Im Gegensatz zu anderen medizinischen Bereichen sei die Personalsituation gut. Das ist wichtig. Denn überarbeitete Retter sind Retter, die Fehler machen. Auf der Wache am Siloah Krankenhaus sind die beiden in ihrer Wochenendschicht für Pforzheim und den nördlichen Enzkreis zuständig. Wenn sich die anderen Teams im Einsatz befinden, kann es aber bis nach Wimsheim gehen. Oft rücken die beiden unnötig aus. Die Zahl an harmlosen Einsätzen, für die es keinen Notarzt braucht, nehmen zu.
Über sowas diskutieren Roser und Treutner beim Frühstück. Bereitschaft heißt nämlich auch: warten. Manchmal gibt es zehn Einsätze, manchmal den ganzen Tag gar keinen. Auf der Wache steht ein Bett bereit. Aber auch im Tiefschlaf gilt: Wenn es piepst, müssen die beiden innerhalb von 30 Sekunden im Auto sitzen. Hellwach und gefasst auf alles, was Leben und Tod für sie bereithalten.