Knittlingen
Knittlingen -  22.05.2022
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Scharfzüngig und wortgewaltig: Denis Schecks Lesung im Faust-Museum in Knittlingen war ausverkauft

Knittlingen. Der einflussreiche Literaturkritiker Denis Scheck (Jahrgang 1964) kam am Freitagabend auf Einladung von Denise Roth ins ausverkaufte Faust-Museum. Das Thema seiner Lesung war Johann Wolfgang von Goethes (1749-1832) Werk – Scheck hatte den Schöpfer des Dramas „Faust“ mit diesem Titel 2019 in seinen vielbeachteten „Kanon der 100 wichtigen Werke der Weltliteratur“ aufgenommen. Im Knittlinger Faust-Museum beeilte sich der durch TV-Formate wie „Druckfrisch“ prominente Kritiker, zu unterstreichen, dass die „Italienische Reise“ des Universalgenies fast den „Faust“ aus seinem literarischen Kanon verdrängt hätte.

„Goethe nahm gerne Reißaus“, unterstrich Denis Scheck: „Er lief sein Leben lang davon – vor Ministerpflichten in Weimar, vor Charlotte und vor seinem Vater. Weglaufen“, so Scheck weiter, „ist eine Signatur von Goethes Leben“, und er präsentierte im gleichen Atemzug einen amüsanten Zeitsprung: „In den 60er- und 70er-Jahren hieß das: Ich geh’ dann mal Zigaretten holen“. Ein solches „Ghosting“, schlug er die verbale Brücke ins Hier und Jetzt, sei „in Zeiten untilgbarer Datenspuren durch Kreditkarten und soziale Netzwerke gar nicht mehr denkbar“.

Scheck führte im Faust-Museum aus, Goethe habe bereits 1770 in einem Brief an Theodor Langer geschwärmt: „Paris soll meine Schule sein. Rom meine Universität“. Doch erst 15 Jahre später „rüttelt die Italienreise an den Stäben des Käfigs seiner Wahrnehmung“. Denis Scheck zeigte sich in Knittlingen ganz sicher: „Goethe erwartet vom etablierten Christentum keine Antworten mehr, die erhofft er sich von Italien“. Der Kritiker erwähnte auch Johann Caspar Goethes (1710-1782) Bildungsreise nach Italien und dessen Reisebuch „Viaggio per l’Italia“, das er als „fleißig, bildungsfromm und vom kaufmännischen Geist durchdrungen“ beschrieb. „Vater und Sohn Goethe“, so analysiert Scheck, „treffen sich in ihrer Enttäuschung: Reisen ist anstrengend, mit Alleinsein verbunden und, im venezianischen Karneval, sogar eine potenzielle Vorschau auf den eigenen Tod“. Dessen ungeachtet, sieht er in Goethe jr., wie im übrigen auch in Rudi Schuricke („Capri-Fischer“), Cornelia Froboess („Zwei kleine Italiener“), Loriot („Ödipussi“) und Andy Möller („Mailand oder Madrid – Hauptsache Italien“) Mitbegründer der Sehnsucht der Deutschen nach Italien.

Abrupter Ortswechsel: „Zu Hause in Weimar, erhebt der Neid sein hässliches Haupt“, fuhr Scheck fort. Friedrich Schiller habe 1789 über Goethe geschrieben: „Ich betrachte ihn wie eine stolze Prüde, der man ein Kind machen muss, um sie zu demütigen“. Scheck schaute grinsend ins Publikum und legte genüsslich noch eins drauf: „Fuck you, Goethe – indeed“. „Goethes Leben währte 30.156 Tage; 654 Tage dauerte seine Italien-Reise. Sein Buch darüber langweilt keine Sekunde“, lautet Schecks Fazit. Seine nicht minder kurzweilige Lesung klang mit kräftigem Beifall aus.

Autor: Robin Daniel Frommer