Unscheinbar und marode, aber ortsgeschichtlich bedeutend: Das Herzenhäusle in Lienzingen
Mühlacker-Lienzingen. Bevor es die Stadt wegen Altersschwäche abreißen lässt, griff Bürgermeister Winfried Abicht den Vorschlag des Lienzinger Stadtrates Günter Bächle (CDU) auf, das über Jahrzehnte von seiner ortsgeschichtlichen Bedeutung her unterschätzte Haus dokumentieren zu lassen. Gut einen halben Tag lang brauchte dazu jetzt Tilman Riegler. Er nahm die Maße des Gebäudes mit Hilfe eines 3D-Scanners und eines Tachymeters auf. Die Ergebnisse sollen später im Stadtarchiv Mühlacker zugänglich sein.
„Der 3D-Scanner erfasst von seinem jeweiligen Standpunkt die gesamte Umgebung und man bekommt für jeden Punkt, von dem der Laser des Scanners reflektiert wird, Koordinaten“, erläuterte der Chef der Strebewerk-Architekten GmbH in Stuttgart, die 2011 auch die historische Ortsanalyse erarbeiteten, Basis für die Gestaltungssatzung des Etterdorfs Lienzingen. Mittels der Kugeln und Schwarz-Marken lassen sich über eine Software die einzelnen Scans zusammenstellen. Da Ergebnis ist ein komplettes Modell. Nun können beliebig Schnitte durch diese Punktwolke gelegt werden, so der Fachmann weiter. Vorteil im Vergleich zu einem Foto sei, dass alles maßlich stimme und es keine Verzerrungen gebe, erläuterte Tillman Riegler Stadtrat Günter Bächle und Steffen Kazda von der Stadtverwaltung, die auch interessierte Zuschauer waren.
Ganz zu schweigen von den neugierigen Passanten. Das zweite Vermessungsgerät, auf einem gelben Stativ: das Tachymeter. Mit diesem könne man einzelne Punkte messen, also auch Lage und Höhe, somit ebenfalls alle drei Koordinaten. Damit ermittelt der Experte die Referenzierung der Lage sowie die Höhe über Normalnull, geläufiger bekannt als über der Meereshöhe. Den dazu notwendigen „Höhenbolzen“ lieferte, wie der Stuttgarter Experte ergänzt, das Landesamt für Geoinformation. Dieser feste Bezugspunkt fand Riegler am Haus Friedenstraße 30 genau 35 Zentimeter über dem Boden. Die Schwelle der Eingangstür des „Herzenshäuschen“ liegt seinen Angaben zufolge 44 Zentimeter unterhalb der bekannten Höhe und damit bei 246,73 Meter über Normalnull. Eine Vermessungs-Software werte diese Daten auch dreidimensional aus.
Die Scans sind ohne Farbe, daher die Dateien als Graustufen-Bilder. Nach dieser ersten Runde ist Tilmann Marstaller gefragt: Das ist der Mittelalterarchäologe, mit dem zusammen das Ratsmitglied dieses Projekt der Verwaltung vorschlug. Ein optisch zwar unscheinbares Haus – aber ein Haus voller historischer Überraschungen, dessen genaues Alter noch ein Rätsel ist. Dendrochronologie soll die Antwort bringen mit Hilfe der Jahresringe im Holz, aus dem eine Probe entnommen wird. Der Bauforscher und Archäologe lüftete mit dieser Methode vor einem Jahrzehnt das Geheimnis des Alters eines jeden Gebäudes im Ortskern. Nur das Herzenhäusle ging ihm raus. Marstaller wertet nun die Scan-Resultate aus. Bächle nennt ihn einen Glücksfall für Lienzingen, aber auch für die Burgruine Löffelstelz, bei der er die Scherbabuzzer mit ihren Funden beriet.
Fasziniert von den Ergebnissen, etwa des Scans als 360-Grad-Ansicht des Daches des Herzenhäusle, ist Bächle auf den Spuren der jüngeren Ortsgeschichte. „Die berufliche Freude am Recherchieren“ nennt der frühere Redakteur seine Beschäftigung mit der Friedenstraße 26/1, so die amtliche Adresse. Eigentlich wollte er nur das Baujahr ermitteln. Doch weder im Stadtarchiv noch im Baurechtsamt fanden sich dazu Akten. Stadtarchivarin Marlis Lippik fand die entscheidende Spur: alte Listen der Feuerversicherung. Danach stand das bescheidene Haus seit mindestens 1842.