Remchingen
Remchingen -  10.03.2022
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„Im Keller hört man die Schüsse“: Ukrainer erzählen von Feuergefechten und Flucht

Remchingen. Eigentlich wollten Nataliya und Ievgen Tkachenko Ende Februar zum Familienurlaub nach Wilferdingen kommen, um den achten Geburtstag ihres Enkels Georg Bodemer zu feiern. Doch kurz vor dem geplanten Abflug stellte der Krieg das Leben der beiden Ukrainer urplötzlich auf den Kopf, wie sie es in über 70 Jahren nie erleben mussten. Dass die beiden mittlerweile in Sicherheit bei ihrer Familie sind, verdanken sie jeder Menge Glück, der Überzeugungskraft ihrer beiden Töchter und der Initiative ihrer Schwiegersöhne, die sich für eine Nacht-und-Nebel-Aktion ins Auto setzten.

Die Angriffe beginnen

Gleich die ersten Angriffe auf die Metropolstadt Saporischschja im Südosten der Ukraine legen den Flughafen lahm. Mit fünf Nachbarn wandeln die beiden den Keller zur provisorischen Schutzzone um. Die wenigen öffentlichen Schutzräume sind längst überfüllt. Sie wohnen nahe dem größten europäischen Atomkraftwerk, das russische Truppen nach heftigem Feuergefecht mittlerweile eingenommen haben. Gleich am ersten Tag beginnen die Sirenen zu heulen, Jung und Alt scharen sich auf Pappkartons und Luftmatratzen im Keller.

In der Hand halten sie Kaffee und Suppe, solange das Pulver dafür reicht, und ihre Smartphones, denen in diesem Krieg kein Angriff entgeht und die zum entscheidenden Kommunikationsmittel geworden sind. Auch, um Videoanleitungen zu verschicken, wie man sich zur Selbstverteidigung einen Molotow-Cocktail mischt, als Kinderspielzeug getarnte Granaten erkennt oder Ziel-Markierungen an Häusern übermalt. Sie haben gespürt, dass irgendetwas in der Luft liegt, erinnert sich die 71-jährige Nataliya.

„Und doch kam der Krieg völlig überraschend für alle. Wir hätten nicht gedacht, dass Russland ohne Vorwarnung angreift. Wir wollten es nicht glauben, hatten so viel Hoffnung.“

Und weiter: „Die Ukrainer sind so eng zusammengeschmolzen wie nie. Dieser Mut, die Vereinigung und Hilfsbereitschaft untereinander sind Punkte, an denen sich Putin verkalkuliert hat.“

Schrecken in der Nacht

Auch der Familie in Deutschland stockt der Atem: „Wir haben plötzlich begonnen, in einer völligen Parallelwelt zu leben. Hier der Geburtstag, an den nicht mehr zu denken war, dort Panzer, Krieg und Chaos“, erinnern sich Tochter Oxana und Schwiegersohn Markus Bodemer, die fortan nur ein Ziel hatten: Die Eltern so schnell wie möglich rausholen. Dies erfordert energische Überzeugungskraft. „Im Keller hört man die Schüsse und will fliehen“, berichtet der 76-jährige Ievgen. „Doch sobald man wieder rauskommt, die Sonne scheint, die Tulpen blühen und es nach Frühling riecht, denkt man, alles sei wie immer. Manche trauen sich schon, den Alarm zu verschlafen. Bis sie ein Angriff mitten in der Nacht aus dem Bett reißt und zeigt, dass der Krieg kein schlechter Traum, sondern Realität ist.“

Fußmarsch zur Grenze

Während für viele Familien die Flucht nicht in Frage komme, weil Männer zwischen 18 und 60 Jahren zur Verteidigung das Land nicht mehr verlassen dürfen, hätten die Senioren große Angst gehabt, die stundenlange Zugfahrt im völlig überfüllten Abteil nicht zu überleben, sich zu verlieren oder erst gar nicht an der Grenze anzukommen. Je länger der Krieg andauert, desto lebensgefährlicher wird die Flucht.

Am vergangenen Wochenende wagen sie es, steigen Hals über Kopf mit zwei Koffern in den Zug und treffen nach 1.300 Kilometern samt Fußmarsch an der Grenze zur Slowakei auf ihre Schwiegersöhne. Tränenüberströmt halten sich Oma, Opa, Kinder und Enkel nach der Flucht in den Armen. Wann und ob sie ihre Nachbarn, Freunde, ihr Zuhause wiedersehen können, kann niemand sagen – die Hoffnung und Gebete für Frieden geben sie jedoch nicht auf.

Anstatt auszuruhen, suchen sie nun nach Arbeit im Haushalt, um auf andere Gedanken zu kommen. Sie wollen anpacken bei der Koordination für weitere Geflüchtete. Zuhause in der Ukraine schlug ihr Herz für die Gartenarbeit, ihr Aquarium und den zwölfjährigen Kater. Auch ihn mussten sie bei Nachbarn zurücklassen. Ievgen würde ihn gerne wiedersehen. Wohlwissend, dass zurzeit tausende Katzen eingeschläfert werden: „Weil es kein Futter mehr gibt und selbst viele Menschen keinen Zugang zu Nahrung, Wasser und Strom mehr haben.“

Autor: zac