Remchingen
Remchingen -  18.06.2021
Artikel teilen: Facebook Twitter Whatsapp

Pointenreich, politisch, hintersinnig: Walter Sittler liest in der Kulturhalle Remchingen

Remchingen. Sind die Zuschauer während der Krise kulturmüde geworden? Müssen sie sich an die neugewonnene Freiheit, Kultur wieder live erleben zu können, nach neusten Regelungen Open Air ohne Maske und ohne vorherigen Test, erst wieder gewöhnen? Vielleicht lag es einfach an der glühend heißen Abendsonne, dass am Donnerstagabend vor der Remchinger Kulturhalle kaum mehr als 50 Besucher mit Fächern und kühlen Getränken dem „Best of“ des verstorbenen Kabarettisten Dieter Hildebrandt lauschten, lebhaft verkörpert vom nicht weniger bekannten Schauspieler und Filmproduzent Walter Sittler.

Dabei hatten am Wochenende zuvor noch gut 200 Besucher mit Konstantin Wecker den Auftakt des Liveprogramms gefeiert, am Mittwoch ließen sich immerhin knapp 100 von Pe Werner heiter-melancholisch in den Abend singen. Der 68-jährige Deutschamerikaner hatte ein stimmungsgeladenes Programm im Gepäck, schließlich konnte er nach 60 Jahren Hildebrandt’scher Texte aus dem Vollen schöpfen: „Es ist ein bisschen warm heute, aber ich werde Ihnen noch dazu ordentlich einheizen“, kündigte Sittler an und freute sich, „nicht in einen Bildschirm glotzen zu müssen, um Menschen zu sehen“.

Als Hildebrandt, der selbst einige Male auf der Kulturhallen-Bühne stand, im November 2013 verstarb, lag noch ein fertiges Programm da, das er als Abschied geplant hatte. Nachdem seine „Letzte Zugabe“ schon als Buch begeisterte Rezensionen geerntet hatte, erweiterte Walter Sittler, der es als Hörbuch eingelesen hatte, das Programm unter dem Titel „Ich bin immer noch da!“. Schließlich habe der Tod Hildebrandts Werken nichts anhaben könne, getreu dem griechischen Philosophen Epikur: „Ich habe mit dem Tod nichts zu tun: Bin ich, ist er nicht – und ist er, bin ich nicht.“

Neben Hildebrandts Bewunderung für Erich Kästner verkörperte Sittler schauspielerisch gekonnt auch so manches Zugfahrt-Erlebnis des weit durch die Republik gereisten Kabarettisten und sorgte für einen Lacher nach dem anderen, als er den kaum verständlichen Zugsprecher imitierte. Auch Hildebrandts politische Seite blieb nicht unbeleuchtet mit Blick auf so manche „Politiker, die man noch mal in die Pfanne hauen sollte, weil sie noch nicht ganz durch sind“. Hatte eben noch der imitierte Altbundeskanzler Kohl das „Abendlied“ von Matthias Claudius gesungen – oder vielmehr gesprochen – sorgte Sittler gleich für die nächste Pointe mit der Suche nach einem seniorengerechten Fernsehprogramm frei nach Hildebrandt’schem Humor: „DSGS – Deutschland sucht den Grauen Star“ oder „Ein Platz an der Sonde“.

Die in den 1950er-Jahren von Hildebrandt mitbegründete Münchner Lach- und Schießgesellschaft durfte ebenso wenig fehlen wie die hintersinnigen Klassiker vom fahrrad-schmuggelnden Sandsackhändler bis zum Märchen über die bayrische Landespolitik, von Adelshochzeiten bis zum Fußball: „Alles grinst, wenn einer mit offener Hose rumläuft – dabei ist es mit offener Klappe noch viel schlimmer.“ Nach dem Motto „Drei Ecken, ein Elfer“ verbeugte sich Sittler dreimal. Bei der Zugabe freute er sich, dass Hildebrandt, der schon zu Lebzeiten Millionen begeisterte und für so manche politische Kontroverse gesorgt hatte, noch immer nicht zum Schluss komme.

Das freute am Ende auch Besucher Herbert Milich aus Singen, während ein paar Plätze weiter Andrea Willmann begeistert über das Wiedersehen mit Sittler war. Vor Jahren war er es, der ihr auf dem Stuttgarter Flughafen geholfen hatte, den Kinderwagen die Treppe herunter zu tragen, erinnerte sich die treue Kulturhallen-Besucherin und stellte mit ihrer Begleiterin Bärbel Schütz fest: „Es ist toll, endlich wieder live Kultur zu genießen – wir haben schon die nächsten Karten.“

Autor: Julian Zachmann