Karlsbad -  02.07.2021
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Was der industrielle Mittelstand jetzt braucht

Karlsbad. Am 26. September wird Deutschland einen neuen Bundestag wählen, der Wahlkampf ist schon jetzt in vollem Gange. Im Wochentakt überbieten sich die Parteien mit Milliardenfeuerwerken gegen den angeblichen Rückstand Deutschlands bei Innovationen und Digitalisierung. Ob die Rezepte nun „Industriepakt“ getauft werden oder man zum „Modernisierungsjahrzehnt“ aufruft – ein durchweg schlüssiges Konzept sind die Parteien der Öffentlichkeit bisher schuldig geblieben.

Dabei stehen in der Wirtschaftspolitik zentrale Fragen auf der Tagesordnung: Wo will das Mittelstandsland Deutschland mit seinen exportstarken Hidden Champions langfristig wirklich hin? Haben wir einen für die Zukunft stimmigen Politikansatz? Welche Unterstützung für den Mittelstand gibt es von den Parteien? Es steht einiges auf dem Spiel: In Europa erwirtschaften sieben Prozent der Weltbevölkerung ein Viertel des weltweiten Bruttoinlandsprodukts und stehen für 50 Prozent der weltweiten Sozialleistungen. Deutschland führt diese Europaliga an.

Weltmarktführer der Sozialleistungen können wir aber nur dann bleiben, wenn wir auch Weltmarktführer der Wirtschaftsleistung sind. Dazu braucht es mehr klare Leitgedanken, weniger Wahlgeschenke. Als es zehn Jahre lang gut lief, wurde Deutschland wirtschaftspolitisch zum Land der Glückseligen verklärt. Wenn es nun schwerer wird, sind die Schuldigen schnell ausgemacht: Der Mittelstand habe geschlafen und komme mit E-Mobilität, Globalisierung, Digitalisierung samt KI nicht klar. Dabei ist das Gegenteil der Fall: Kaum jemand ist so resilient durch Krise und Strukturanpassungen gekommen wie unsere global agierenden Mittelständler aus der Industrie.

Am erfolgreichen Umgang der Unternehmen mit der Krise sollte sich die Politik bei zukünftigen Herausforderungen ein Beispiel nehmen. Zugleich sollte man diese Widerstandsfähigkeit nicht durch staatlichen Aktionismus bremsen. Aus Sicht des industriellen Mittelstandes heißen die größten Herausforderungen des nächsten Jahrzehnts Defossilisierung, Strukturwandel und Wertewandel. Unsere Chancen liegen in technologischem Fortschritt und dezentralen, schnellen Geschäftsmodellen. Unsere Gefahren heißen Bevormundung, Bürokratie, Intransparenz, Steuerlast und unverantwortliche Verschuldung.

Die Frage der Defossilisierung, also die die Beendigung des Ausstoßes von Kohlendioxid aus der Verbrennung fossiler Rohstoffe, beantworten wir, indem wir jeden CO2-Ausstoß mit einem Preisschild versehen. Wenn der Marktpreis für eine Tonne CO2 bei mindestens 70 Euro liegt, ist dies für Konsumenten und Produzenten der beste Anreiz dazu, weniger CO2 zu verbrauchen. Wie sie das machen, bleibt ihre Sache. Dass vieles damit teurer wird, ist der Preis für den so wichtigen Klimaschutz. Die Lenkungswirkung von Instrumenten wie dem Zertifikathandel dürfte größer sein als die von moralisch imprägnierten Appellen zum Verzicht.

Strukturwandel: Mit diesem Prinzip können wir vor Ort und bei jedem CO2-Verbraucher – Konsument und Industrie – den ökologischen Strukturwandel auslösen, den wir weltweit dringend brauchen. Grünes Denken, aber mit schwarzen Zahlen – das funktioniert nur mit der sozialen Marktwirtschaft als Instrument der Ideenfindung. Eins ist sicher: Der Staat weiß es nicht besser. Die teuren Beispiele Kohle, Stahl, Atomstrom und auch die jahrzehntelangen Subventionen für den Diesel zeigen, dass gerade unsere Verantwortlichen in Berlin die Zukunft nicht vorhersehen können.

Wertewandel: Der Ansatz, jedes Detail genau regeln zu wollen, steht merkwürdigerweise konträr zur gesellschaftlichen Entwicklung. New Work und das „agile Mindset“ fordern vom „Boss“ Vertrauen und mehr Autonomie für die Einzelnen. Natürlich nach fairen und transparenten Regeln und einer abgestimmten Vision. Das ist gut und für den Mittelstand weniger neu als für manche Konzerne. Wenn man Parteiprogramme liest, dann geht es heute aber vor allem um Grenzwerte, Kontrollen und Strafen für die angeblich monströse deutsche Industrie. Und um höhere Steuern.

Am Ende muss die Rechnung ökonomisch aufgehen

Egal welche Forderungen aus Politik und Öffentlichkeit an den Mittelstand herangetragen werden, dürfen wir eine entscheidende Sache nicht vergessen. Ob es nun um Diversität, Vertrauensarbeitszeit, breit wahrgenommene Elternzeit, großzügige Teilzeitmodelle, Homeoffice, Digitalisierung, Künstliche Intelligenz oder um die weltweit Menschenrechte wahrenden Lieferketten geht: Am Ende muss die Rechnung ökonomisch aufgehen.

Das gilt sowohl bei uns hier in Karlsbad als auch im Rest der Welt. Sicher ist der Staat keine Firma – aber er täte gut daran, sich am Prinzip der produktiven Wirtschaftlichkeit zu orientieren. Denn wer einen funktionierenden Sozialstaat haben will, muss ihn sich auch leisten können. Von der nächsten Bundesregierung brauchen wir, was noch unter Gerhard Schröder „Angebotspolitik“ genannt wurde: eine funktionierende Infrastruktur, gute Bildung für wirklich alle, einen starken, jedoch keinen großen Staat, mehr Vertrauen in Privatinitiativen, weniger Bürokratie und eine konkurrenzfähige Steuerlast. Dann bleiben die Mittelständler und ihre Ideen im Land, und Deutschland bleibt Weltmarktführer. Auch bei den Sozialleistungen.

Autor: Thomas Herrmann