62-Jähriger wird nach tödlichem Messerstich in Langenbrand freigesprochen
Tübingen/Schömberg-Langenbrand. Auf sein Schlusswort hatte der Angeklagte verzichtet. Weinend und mit tief gesenktem Kopf hatte er am Dienstag die Begründung des Vorsitzenden Richters für seinen Freispruch vom Vorwurf des Totschlags verfolgt. Dann trat er aufrecht vor die Mitglieder des Schwurgerichts und reichte allen die Hand – auch der Staatsanwältin, die sechs Jahre Haft beantragt hatte. In Handschellen aus der Haft vorgeführt, verließ er als freier Mann den Tübinger Schwurgerichtssaal.
Der 62-jährige muslimische Usbeke, im Jahr 2001 aus der Heimat Kasachstan per Familiennachzug zu seiner damaligen russlanddeutschen Frau nach Deutschland und später nach Schömberg gekommen, hatte im Februar nach einem Zechgelage seinen russlanddeutschen Kollegen in dessen Langenbrander Wohnung mit einem Messerstich in den Hals getötet.
Arbeiter in Bad Wildbad
Das war nach den Ermittlungen und nach den Angaben des Angeklagten im Kern unstrittig. Auch, dass die in Bad Wildbad arbeitenden Ein-Euro-Job-Kollegen an jenem Samstag im Februar beide weit über zwei Promille im Blut hatten, als es zu einem wüsten Streit und dem tödlichen Stich kam, zweifelte in dem Prozess vor dem Tübinger Landgericht niemand an.
Staatsanwältin Miriam Wieber aber warf dem einstigen Sowjet-Fußballnationalspieler und VfB-Fan vor, sich durch plötzliche homosexuelle Avancen des Gastgebers zutiefst beleidigt gefühlt – und deshalb im Zorn mit gezielter Tötungsabsicht zugestochen zu haben. Der Angeklagte hatte das von Anfang an, nachdem er selber über die Langenbrander Nachbarn Polizei und Rettungskräfte alarmiert hatte, ganz anders geschildert.
Sein Kollege hätte sich plötzlich im zunehmenden Wodka-Rausch als „Dieb des Gesetzes“ aufgespielt, wie in einstigen Sowjet-Gefängnissen die mafiösen Häftlingsbosse hießen. Er habe gedroht, ihn zum „Hamburger Hahn“ zu machen. So nannte man offenbar die rituelle anale Vergewaltigung der Alleruntersten in der Knast-Hierarchie.
Es muss, so die Ermittlungen, zu einem Kampf gekommen sein, bei dem der Angeklagte mit zwei Rippenbrüchen, Würgespuren, blauen Flecken von Schlägen auch in den Bauch heftigere Blessuren erlitten habe als sein sechs Jahre jüngerer Angreifer – mit Ausnahme des tödlichen Stichs in den Hals. Schon beim Gutachten des psychiatrischen Sachverständigen hatte der Vorsitzende Richter Ulrich Polachowski die Frage gestellt, ob denn eine gleichermaßen von Vergewaltigung bedrohte Frau nicht selbstverständlich auch zu einem Messer greifen dürfte, um solch einen Übergriff abzuwehren. Der Getötete hatte an beiden Händen tiefe Schnitte vom Tatmesser. Darum hatten die beiden wohl gerungen. Noch lang bis nach Eintreffen der Rettungskräfte hatte der Angeklagte dieses Messer in der linken, der falschen Hand eines Rechtshänders gehalten. Das sprach nicht nur aus Sicht der Verteidigerin Sylvia Schwaben klar gegen einen Tötungsvorsatz.
Der Vorsitzende Richter lobte die „faire Arbeit“ der Ermittler von Kripo und Staatsanwaltschaft. Sie hätten nicht nur Zeugen gefunden für häufige homosexuelle Avancen des später Getöteten. Sie hätten auch dessen Neigung zu Gewalttätigkeit unter Alkoholeinfluss und zu wüsten Wesenswechseln bestätigt bekommen. Dazu mafiöse Großsprechereien aus alten Sowjet-Zeiten. Vom Angeklagten hingegen sei keine Neigung zur Gewalt aktenkundig geworden, so der Richter in seiner Urteilsbegründung.
Man habe es oft mit Notwehr-Ausreden zu tun, sagte der Vorsitzende. Und die Kammer scheue sich auch nicht, Angeklagte zu lebenslänglich mit besonderer Schwere der Schuld zu verurteilen. Aber hier seien die Einlassungen des Angeklagten „gesteigert glaubhaft“ gewesen. Auch wenn ein Mensch zu Tode gekommen sei: „Gegen so etwas darf man sich auch mit einem Messer wehren. Diese Tat war gerechtfertigt“, sagte Ulrich Polachowski.