Schömberg
Schömberg -  29.07.2019
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Prozess wegen tödlicher Messerattacke in Langenbrand gestartet: Stach der Angeklagte aus Notwehr zu?

Tübingen/ Schömberg-Langenbrand. Ohne ein Mörder zu sein“, habe er einen Menschen getötet. Das wirft die Staatsanwaltschaft am Schwurgericht des Landgerichts in Tübingen einem 62-jährigen Schömberger vor. Nach einem gemeinsamen Zechgelage und einem anschließenden Streit verblutete sein Kollege Mitte Februar durch einen Messerstich in den Hals. Gestern startete nun der Prozess.

Was Staatsanwältin Miriam Wieber als Totschlag anklagt, ist für den gebürtigen Usbeken aus Kasachstan pure Notwehr gewesen. Der Mann verfolgt die Anklageverlesung immer wieder weinend. „Entrüstet“, so der Vorsitzende Richter Ulrich Polachowski, habe der 62-Jährige von Anfang an auf den Vorwurf, auf seine Haft und den Prozess reagiert. Vier Verhandlungstage sind angesetzt, um zu klären, was am 16. Februar Februar in der Wohnung des getöteten Russlanddeutschen im Schömberger Ortsteil Langenbrand geschah.

Das Problem bei der Wahrheitsfindung ist auch der Alkohol. Rund 2,6 Promille hatte der Getötete intus. Beim Angeklagten stellte man noch fünf Stunden nach der Tat 2,28 Promille im Blut fest. Der Fußballfan, in Trennung von seiner zweiten Frau, hatte nach einer VfB-Niederlage mit einer halben Flasche Wodka vorgetrunken und war mit Bier auf Besuch zum Bekannten und Kollegen gegangen. Der erledigte unter der Woche gemeinsam mit ihm als Ein-Euro-Jobber Tischlerarbeiten in Bad Wildbad.

Der Gastgeber hatte in seiner Wohnung zusammen mit einer Frau schon fast eine Flasche Wodka geleert. Der Restschnaps blieb zurück, als die Zechkumpanin ging. Später habe sich der Angeklagte, ein gelernter Busfahrer, laut Staatsanwaltschaft von homosexuellen Avancen des betrunkenen Kollegen beleidigt gefühlt und ihn mit einem Tomatenmesser mit einer zwölf Zentimeter langen Klinge in den Hals gestochen. Der alarmierte Notarzt konnte an jenem Abend um 20.27 Uhr nur noch den Tod des Mannes feststellen.

Ganz anders lässt der Angeklagte von seiner Verteidigerin das Geschehen schildern. Nach dem Abgang der Frau sei der Kollege irgendwann „plötzlich wie verwandelt gewesen“. Dieser habe ihn zum „Hamburger Hahn“ – offenbar eine Bezeichnung aus einstigen Sowjetgefängnissen für einen Schwulen – machen wollen und massiv angegriffen: mit Schlägen, Tritten und Würgen. Irgendwie sei ihm bei dem Kampf das Messer in die Hand gelangt, und er habe wohl in Notwehr zugestochen.

Allerdings, so die Verteidigung, habe er den Kontrahenten weder töten wollen, noch danach die Schwere seiner Verletzung bemerkt. Von dem dann „mit Schnarchgeräuschen Röchelnden“ habe er sich befreien können, um bei Nachbarn einen Notarzt zu alarmieren. Als die Ersthelfer kamen, hatte der Betrunkene das Tatmesser noch in der Hand – in der linken, obwohl er Rechtshänder ist.

62-Jähriger selbst verletzt

Das ist eine der Unklarheiten, die Zweifel am vorsätzlichen Totschlag zulassen. Auch die tiefen Schnitte an der Hand des Getöteten und die vielen erheblichen Kampfverletzungen, die später im Pforzheimer Siloah-Krankenhaus beim Angeklagten festgestellt wurden, könnten seine Darstellung stützen. Zudem habe der Kollege seine Trunksucht gewöhnlich mit Wein, nicht mit Wodka ausgelebt, was ein Ausrasten erklären könnte.

Als der Richter dem 62-Jährigen nahezulegen versuchte, doch einige Dinge zu klären, warf die Verteidigerin Sylvia Schwaben spitz die Frage ein: „Im Zweifel gegen den Angeklagten?“ Sie traf damit den Kern Prozesses, zu dem zwei Gutachter und zehn Zeugen geladen sind: Dem Angeklagten müssen die Ermittler, die Staatsanwaltschaft und schließlich die Strafkammer seine Schuld beweisen – nicht umgekehrt.

Der Prozess am Schwurgericht des Landgerichts in Tübingen wird am Dienstag, 30. Juli, ab 9 Uhr fortgesetzt.

Autor: Martin Bernklau