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Retter -  01.12.2019
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Denn sie wissen nicht, was sie tun: Junge Raser zwischen Totschlag und Mord

Junge Männer rasen mit ihren Autos durch Innenstädte – Unbeteiligte bezahlen für diesen Wahnsinn mit ihrem Leben: „Gefängnisstrafen sind zwingend“, sagt die Verkehrspsychologin, „Jeder Fall muss einzeln betrachtet werden“, sagt der Richter.

Früher bin ich auch ganz schön gerast und habe unnötig viel riskiert. (...) Die Leute haben ja oft gar keine Ahnung, was für einen gefährlichen Mist sie bauen. Man weiß nie, was so ein Typ auf der Straße als nächstes tut. (...) Ich habe überhaupt keine Lust mehr, zu rasen (...).“ – diese Sätze vom 17. September 1955 stammt aus einem Werbespot zum Thema Verkehrssicherheit. Gesagt hat sie James Dean. Zwei Wochen später starb der US-Schauspieler bei einem Verkehrsunfall. Im Alter von 24 Jahren. Dean war gerade mit dem Film „... denn sie wissen nicht, was sie tun“ zu einem Jugendidol avanciert.

Der Film thematisiert die Kultur der Halbstarken in den 1950er-Jahren. Junge Männer aus der Mittelschicht entdecken das Auto als Statussymbol und liefern sich waghalsige Rennen. Es sollte nicht der einzige Auto-Action-Streifen bleiben – „Manta, Manta“, „Fast And Furious“, oder „Death Race“ wurden zu Blockbustern.

Verkehrspsychologin: „Es geht nur um den Adrenalinschub“

Autorennen auf öffentlichen Straßen kannte man bis dato nur aus Filmen. Seit ein paar Jahren aber sind diese Leinwand-Rennen in deutschen Städten zur Realität geworden. Zu einer bitteren. Weil hinterm Steuer junge Männer sitzen, die nicht wissen, was sie tun.

Rita Stumpf weiß das aus ihrer rund 20-jährigen Tätigkeit als Verkehrspsychologin: „Junge Männer, die das Gaspedal durchdrücken, blenden komplett aus, welches Risiko sie damit verursachen. Es geht nur um den Adrenalinschub und darum, zu zeigen, was sie auf dem Kasten haben. In diesem Alter hat man keine Angst, man will sich erproben. Der Fahrstil wird zum Lebensstil.“

Der typische Raser ist männlich und wenig gebildet

Der typische Raser sei männlich, jung, habe tendenziell einen eher niedrigen Bildungsstatus und ausländische Nationalität, sagt die 53-Jährige. Das sei kein Klischee. „Zum einen steckt diese Altersgruppe um die 20 Jahre voller Testosteron, zum anderen befinden sich diese Heranwachsenden in einer Phase, in der es darum geht, sich seine Position in der Männerwelt zu erarbeiten, Anerkennung zu bekommen. Bei Frauen geht das eher über die Optik, Männer sind mehr wettbewerbsorientiert“, erklärt Stumpf. Sie beobachtet, dass die Raser häufig Türken oder Araber sind.

„Jungen Menschen mit muslimischem Hintergrund ist das Bild nach außen ganz wichtig. Sie wollen damit signalisieren: ,Wir haben es in diesem Land zu etwas gebracht‘. Das Auto, oftmals geleast oder von der Familie finanziert und auf den Vater zugelassen, ist dabei ein ganz wichtiges Statussymbol“, sagt Stumpf und ergänzt: „Aus meiner praktischen Arbeit als Verkehrspsychologin heraus nehme ich wahr, dass Punkte wegen zu schnellem Fahren häufig auf das Konto ausländischer Fahrer gehen. Das hat etwas mit mangelnder Regelkonformität zu tun. Es fehlt die häusliche Vermittlung von Grenzen und deren Einhaltung, gerade hier in unserem Land. Nur zu Hause, in der eigenen Familie, funktioniert ein Regelsystem mit dem Vater als absolutes Machtzentrum“, erzählt Stumpf. „Ich spreche das so deutlich an, weil diese jungen Männer sonst nie die Chance haben, hier Fuß zu fassen.“

Sie dürfen wie Erwachsene Auto fahren, aber das Jugendstrafrecht greift

Als kontraproduktiv empfindet es Stumpf, dass die Raser oft nach Jugend- und nicht nach Erwachsenenstrafrecht verurteilt würden. Ersteres greift zwingend bis zum 18., bis zum 21. Lebensjahr kann das Gericht optional entscheiden, nach welchem Recht es urteilt, je nach Einschätzung des Reifegrads des Angeklagten. Stumpf beobachtet, dass Richter den Rasern zwischen 18 und 21 Jahren meist diese Reifeverzögerung attestierten, obwohl sie Erwachsenenprivilegien genössen, indem sie schon ab 18 Jahren Autos ohne jegliche PS-Begrenzung fahren dürften.

Gehören Raser dann ins Gefängnis? In der Schweiz gibt’s da kein Vertun: Seit 2013 geht – bis zu vier Jahre – direkt ins Gefängnis, wer Tempolimits innerorts um 50 Kilometer pro Stunde (km/h) oder auf Autobahnen um mehr als 80 km/h überschreitet. Auch Stumpf ist da deutlich: „Eine Gefängnisstrafe ist zwingend“, sagt sie. „Es muss hier klare Kante gezeigt werden. Es kann doch nicht sein, dass ich nur für meinen Spaß das Leben anderer Menschen auslösche.“ Sie erlebe jeden Tag, dass die Strafen die Raser gar nicht erreichten, weil die Konsequenzen nicht spürbar würden. Viele Verfahren würden eingestellt. Stumpf setzt deshalb auf Abschreckung und konstatiert: „Sie wachen allesamt erst auf, wenn das Gefängnis droht.“

Richter: „Jeweilige Umstände des Einzelfalls“ bewerten

Wie schwierig das mitunter in der Praxis umzusetzen ist, macht Wolfgang Tresenreiter deutlich. Er ist Vorstandsmitglied des Richterbundes Baden-Württemberg und als Vorsitzender Richter am Landgericht Ulm tätig. „Maßgeblich für das Strafmaß sind die jeweiligen Umstände des Einzelfalls“, betont er. Ausgangspunkt der strafrechtlichen Schuldzumessung sei zuvörderst die Frage nach dem objektiven Tatgeschehen: Was ist passiert? Es gelte zu klären, was dabei im Täter vorging. Bei dieser Frage nach dem persönlichen Schuldvorwurf unterscheide die Justiz vier Kategorien: Er hat fahrlässig, bedingt vorsätzlich, mit direktem Vorsatz zweiten Grades (Wissentlichkeit) oder ersten Grades (Absicht) gehandelt. „Beim Rasen kommt in der Regel allenfalls der bedingte Vorsatz in Betracht: Dann nämlich, wenn der Fahrer in Kauf nimmt, dass jemand zu Tode kommt“, so der 53-jährige Rechtsexperte. „Davon aber abzugrenzen ist jener Fall: Der Raser sieht das Risiko, vertraut aber darauf, dass es gut geht. Das wäre dann fahrlässige Tötung.“ Und: „Wenn er aber sagt: ,Es ist mir egal, ob jemand zu Schaden kommt’ – dann ist es Totschlag oder Mord.“

Feine Trennlinien also, die ein Gericht durch akribische Prozessarbeit in den meist mehrtägigen Verhandlungen ziehen muss, um gerechte Strafen zu verhängen. Denn: Eine fahrlässige Tötung kann mit bis zu fünf Jahren, ein bedingter Tötungsvorsatz mit bis zu 15 Jahren (Totschlag) und Mord mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe geahndet werden. Gravierende Unterschiede. Deshalb: „Ist der Schuldvorwurf nicht eindeutig festzustellen, schreibt das Gesetz vor: Im Zweifel für den Angeklagten“, betont Tresenreiter. Heißt: Die mildere Strafe wird verhängt.

Aus bloßer Ordnungswidrigkeit wurde Straftat

Dass die Bevölkerung oftmals Urteile als zu lasch empfindet, kann der Richter mit knapp 25 Jahren Berufserfahrung zwar nachvollziehen, gibt aber zu bedenken: „Das Leben ist nun mal sehr differenziert und auch der Schuldvorwurf ist mehr als nur Schwarz oder Weiß. Die Strafe hat mehrere Komponenten und es geht immer um diesen einen Angeklagten. Wir machen niemanden zum Sündenbock.“ Zudem sei es „sehr schwierig, einen Fall nur aus der Presseberichterstattung zu beurteilen. Denn bei allem guten Willen der Journalisten: Ein Artikel kann einen mehrstündigen Prozesstag geschweige denn eine mehrtägige Verhandlung notwendigerweise nur verkürzt wiedergeben“.

Insbesondere die Schaffung des neuen Paragrafen 315d, der das illegale Autorennen von einer bloßen Ordnungswidrigkeit zu einer Straftat heraufstufe, zeige doch, dass der Gesetzgeber reagiere, so Tresenreiter, der sein Bild nicht in der Zeitung sehen will, weil er aufgrund seiner Richtertätigkeit und damit verbundenen „nicht immer zufriedenen Kunden“, wie er scherzhaft sagt, etwaigen Unannehmlichkeiten aus dem Weg gehen möchte. Erstmalige Anwendung fand der Paragraf, der im Oktober 2017 in Kraft trat, Mitte November im ersten baden-württembergischen Raserprozess am Landgericht Stuttgart (nach Jugendstrafrecht), zuletzt vor einer Woche am Landgericht im bayerischen Deggendorf: Die Täter wurden jeweils zu einer fünfjährigen Haftstrafe verurteilt – wegen illegalen Autorennens mit Todesfolge. In Stuttgart starben zwei Menschen, in Deggendorf einer.

„Fahrt vorsichtig! Vielleicht bin ich es, dem ihr damit eines Tages das Leben rettet“, mahnt James Dean in seinem Werbesport. Sein Leben ist nicht mehr zu retten, das vieler anderer schon.

Gefährlicher Geschwindigkeitsrausch: Raser vor Gericht

■ 2015

Köln: Ein 22- und ein 21-Jähriger rasen mit mehr als 100 Kilometern pro Stunde (km/h) durch die Stadt. Einer verliert die Kontrolle und schleudert auf einem Radweg auf eine 19-Jährige, die stirbt. Beide Fahrer werden wegen fahrlässiger Tötung verurteilt – auf Bewährung.

Frankfurt: Fünf Jahre wegen Totschlags erhält ein 24-Jähriger, der bei Tempo 142 (erlaubt waren auf der Landstraße 70 km/h) mit einem Auto kollidiert, dessen Fahrer stirbt.

■ 2016

Berlin: Auf dem Kurfürstendamm liefern sich zwei Männer ein Rennen bei 170 km/h. Ein 69-jähriger Unbeteiligter bezahlt mit dem Leben. Die 24- und 26-jährigen Fahrer erhalten lebenslange Haftstrafen.

■ 2017

Hamburg: Alkoholisiert rast ein 24-Jähriger mit 155 km/h durch die Straßen, verliert die Kontrolle und stößt mit einem Taxi zusammen. Ein Insasse stirbt, zwei weitere werden schwer verletzt. Urteil: lebenslange Freiheitsstrafe wegen Mordes.

■ 2018

Berlin: Auf der Flucht vor der Polizei durchbricht ein 28-Jähriger eine Straßensperre, rammt ein Auto und erfasst in einer 30er-Zone mit Tempo 80 eine Studentin, die bei Grün die Straße überquert. Sie stirbt, der Beifahrer des Rasers auch. Urteil: lebenslängliche Haft wegen Mordes.

■ 2019

Stuttgart: Ein 20-Jähriger rast mit einem Jaguar durch die Stadt und verliert bei mehr als 160 km/h die Kontrolle. Er prallt auf ein Auto, beide Insassen sterben. Das Urteil wird nach Jugendstrafrecht gefällt: Fünf Jahre Haft wegen illegalen Autorennens mit Todesfolge.

München: Auf der Flucht vor einer Polizeikontrolle rast ein 34-Jähriger mit bis zu 100 km/h auf der Gegenfahrbahn durch die Stadt und erfasst zwei jugendliche Fußgänger, die bei Grün die Straße überqueren. Der 14-Jährige stirbt, der 16-Jährige wird schwer verletzt. Es ergeht Haftbefehl wegen Mordes und versuchten Mordes.

Kölner Polizei hat eigene Dienststelle für illegale Autorennen

Die Zahl ist erschreckend: Jeden zweiten Tag stirbt ein Mensch durch viel zu schnelles Fahren – in Baden-Württemberg. Laut Innenministerium in Stuttgart sind 2018 insgesamt 161 Menschen durch Raserei ums Leben gekommen. Ein bundesweiter Raser-Schwerpunkt ist Köln. Deshalb richtete das nordrhein-westfälische Innenministerium bei der dortigen Polizei eine eigene Dienststelle „Verkehr/Rennen“ ein. Beamte in Zivil führen gezielt Fahrzeugkontrollen durch. „Deutlich mehr als 200 Autos sind in diesem Jahr schon aus dem Verkehr gezogen und einem Sachverständigen vorgeführt worden“, sagt Christoph Schulte, Pressesprecher der Polizei Köln. Die technisch veränderten Fahrzeuge seien nicht mehr verkehrssicher. „Die Beamten kennen die Szene-Treffpunkte und wissen, welche Strecken für Rennen ausgesucht werden“, erklärt Schulte. Alleine im Raum Köln/Leverkusen seien 2019 bereits 93 illegale Rennen festgestellt worden.

Autor: jo