Erinnern statt vergessen: Bewegendes Gedenken in der Region an die Reichspogromnacht vom 9. November 1938
Bad Wildbad/Mühlacker/Neulingen. In mehreren Veranstaltungen in Bad Wildbad, Mühlacker und Neulingen wurde an die Reichspogromnacht vom 9. November 1938 erinnert. In Bad Wildbad erzählte Jennifer Teege, Enkelin des KZ-Kommandanten Amon Göth, ihre bewegende Familiengeschichte. In Mühlacker und Neulingen erinnerten Gedenkveranstaltungen und Gottesdienste an die Opfer des Nationalsozialismus und betonten die Bedeutung einer lebendigen Erinnerungskultur.
Bad Wildbad: „Der Historiker Raul Hilberg hat einmal gesagt, in Deutschland ist der Holocaust Familiengeschichte. Wichtig ist deshalb, dass ich an diesen Tag erinnere, aber auch, wie geht es weiter? Das ist für die nächste Generation entscheidend. Wir haben eine unfassbare Verantwortung, für Menschlichkeit einzustehen“, mit diesen eindringlichen Worten wandte sich Jennifer Teege an die rund 130 Besucher ihrer Lesung in der evangelischen Stadtkirche in Bad Wildbad. Die Arbeitsgruppe „Zeugen der NS-Zeit in Bad Wildbad“ hatte in Zusammenarbeit mit der VHS Calw anlässlich des Gedenkens an die Reichspogromnacht vom 9. November 1938 mit dem Beginn der Judenverfolgung, die Wahlhamburgerin eingeladen, um ihre ganz eigene Lebensgeschichte vorzustellen.
Gemeinsam mit der Stern-Journalistin Nicola Sellmair entstand „Amon – Mein Großvater hätte mich erschossen“. Auf der Rückseite des Einbands ist zu lesen: Ihre Haut ist dunkel, sie hat in Israel studiert. Weil sie im Kinderheim und bei einer Adoptivfamilie aufwuchs, entdeckt Jennifer Teege erst mit 38 Jahren durch einen Zufall ihr Familiengeheimnis. Sie ist die Enkelin des KZ-Kommandanten Amon Göth, bekannt aus Steven Spielbergs Film Schindlers Liste. „Mein Großvater war ein Psychopath, ein Sadist. Er verkörpert all das, was ich ablehne. Was muss das für ein Mensch sein, dem es Freude macht, andere Menschen möglichst einfallsreich zu quälen und zu töten?“
In ihrer sehr persönlichen Lesung nahm sie die Zuhörer mit auf eine bewegende und beklemmende Reise in die Vergangenheit bis in die Gegenwart ihrer Familiengeschichte. Um ihre Geschichte aufzuarbeiten, reiste sie nach Polen, besuchte das ehemalige Haus ihres Großvaters, den Gedenkstein auf dem nahe gelegenen Areal des Lagers. Teege sprach auch über ihre Großmutter, Ruth Irene Göth. Die charismatische Frau verleugnete die Gräueltaten bis zuletzt, gab an, nichts mitbekommen zu haben. Für Ihre Enkelin steht sie stellvertretend für die Millionen Mittäter, die weggeschaut und nichts unternommen haben. Teeges Biografie ist in 16 Sprachen veröffentlicht, war Bestseller beim Spiegel und bei der New York Times. Bei der Vorstellung auf der Buchmesse waren 1000 Menschen dabei. Eine Bitte äußerte sie an das Publikum, die Bitte, immer im Dialog zu bleiben. „Wir als Zivilgesellschaft können versuchen, Dinge zu verändern.“
Mühlacker: Bei drei Veranstaltungen hintereinander haben der Historisch-Archäologische Verein Mühlacker, die Volkshochschule Mühlacker und die Evangelischen Paulus-Kirchengemeinde Mühlacker am Sonntagabend den Ereignissen in der Reichspogromnacht 1938 gedacht, auch wenn Mühlacker selbst damals von den Überfällen verschont geblieben ist. Dennoch kamen im Zuge der Nazi-Diktatur sechs der 1933 in Mühlacker gemeldeten acht jüdischen Bewohner im KZ Auschwitz um. Neben Mahnwachen an den Stolpersteinen wurde an die Tausende Opfer dieser Nacht erinnert und in Form eines Vortrags über die Musik als Mittel der NS-Propaganda informiert.
„In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 zerstörten organisierte Schlägertrupps 7500 jüdische Geschäfte und über 1200 Synagogen“, erinnerte die Vorsitzende des Historisch-Archäologischen Vereins, Christiane Bastian-Engelbert, an die Brutalität des Nazi-Regimes. Rekapitulieren, was in jener Nacht vor 87 Jahren geschehen ist, das wird deshalb im Sinne einer gelebten Erinnerungskultur als wichtig erachtet.
„Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist“, in diesem Sinne erinnern die 21 Stolpersteine in Mühlacker und in den Teilorten an die damalige Zeit, etwa an Friedrich Schwab, Jahrgang 1922, der wegen Wehrkraftzersetzung verhaftet und am 24. Januar 1944 hingerichtet worden ist. Sein Neffe Martin Schwab war am Sonntagabend in Mühlacker zu Gast, um dem Gedenken beizuwohnen. Erinnert wird aber auch an Menschen wie Ernst August Stumm, der zu den zahlreichen Euthanasieopfern zählte, oder an Marthe Bracher, die durch medizinische Experimente starb.
Im vergangenen Jahr, so Bastian-Engelbert, haben die Uhlandschule und die Schillerschule Patenschaften für Stolpersteine übernommen. Zudem haben viele geholfen, die Stolpersteine zu säubern, unter anderem auch die Pfadfinder. Für diese Unterstützung ist sie dankbar, zumal sie auch das Bewusstsein für die damaligen Gräueltaten sensibilisiere. Man wolle an diesem Abend nicht nur den jüdischen Opfern gedenken, sondern auch an die mutigen Menschen erinnern, „die sich dem Regime widersetzt haben“, betonte Bastian-Engelbert.
Neulingen: Im evangelischen Gemeindehaus in Bauschlott wurde am Sonntagabend erstmals in einem ökumenischen Gottesdienst der Arbeitsgemeinschaft christlicher Gemeinden Neulingen an die Novemberpogrome von 1938 erinnert. Das Gedenken an die sogenannte Reichskristallnacht vom 9. auf den 10. November 1938 stand unter dem Thema: „Komm, Frieden, lass dich wecken!“ Demgemäß grüßte der Bauschlotter Gemeindepfarrer Holger Müller mit den Worten „Friede sei mit Euch.“ Wie er ausführte, sei dies ein erster Gottesdienst dieser Art mit Vertretern aller christlichen Konfessionen in Neulingen. Er soll nun jedes Jahr am 9. November gefeiert werden.
In seiner nachdenklichen Predigt führte Müller aus, dass man in einer Zeit angekommen sei, in der die Bedrohung größer werde und es bei Kriegen nur Verlierer, aber keine Gewinner gebe. Er brachte aber auch seine Freude über die friedliche Revolution vom 9. November 1989 mit dem Fall der Berliner Mauer zum Ausdruck, bei der das DDR-Regime keine Panzer vorfahren ließ, was er als deren beste Tat bezeichnete. Für eine musikalische Umrahmung mit gesungenen Chorälen sorgte die Band „Himmelsbande“.
