Große Gefühle auf kleiner Bühne: Friedrich von Thun beim diesjährigen Maulbronner Klostersommer.
Maulbronn. Nie verlässt Novecento das Schiff. Es ist seine Heimat, der Ort, an dem er ganz der Musik gehört. Am Klavier ist Novecento völlig abwesend, unternimmt im Geiste Reisen um die Welt.
Wenn Friedrich von Thun im Laienrefektorium des Maulbronner Klosters zusammen mit den Musikern Max Neissendorfer, Karsten Gnettner und Stephan Eppinger seine Geschichte erzählt, dann ist es mucksmäuschenstill im Publikum. Der Schauspieler haucht dem 1994 von Alessandro Baricco verfassten Monolog „Novecento - Die Legende vom Ozeanpianisten“ mit seiner tiefen, charaktervollen Stimme Leben ein – so, als plaudere er in entspannter Runde vergnügt vor sich hin.
Immer wieder wirft er Sätze ein wie: „Niemand ist verpflichtet, das zu glauben.“ Aber man will es glauben, man hängt an den Lippen von Thuns, will wissen, wie es weitergeht, wie es am Ende ausgeht mit dem Pianisten, dem besten Pianisten von allen, „ich schwöre“. Und der Schauspieler erzählt: davon, wie Novecento als Säugling elternlos in einem Pappkarton auf einem Kreuzfahrtschiff gefunden wird. Davon, wie ein schwarzer Maschinist ihn aufzieht. Und von dem Abend, als Novecento zum ersten Mal Klavier spielt: im Tanzsaal der ersten Klasse, im Alter von acht Jahren. Der Junge spielt „eine Musik, die es gar nicht gibt“.
Das Publikum taucht ein in eine längst vergangene Zeit: in die Welt um die Jahrhundertwende, als Einwanderer auf den Schiffen die Gardinen und Bettlaken aus der Not heraus zu Kleidung verarbeiteten, als Jazz, Swing und Blues noch in den Kinderschuhen steckten und eine Reise von Europa nach Amerika nicht in wenigen Stunden erledigt war.
Immer tiefer dringt von Thun in das Leben des Protagonisten vor, variiert Sprechtempo, Ausdruck und Intonation, gibt in verschiedenen Rollen mal den stets vorschriftsmäßig handelnden Kapitän des Schiffs, mal den eingebildeten Jelly Roll Morton, der sich als Erfinder des Jazz bezeichnet, aber im Wettstreit gegen Novecento eine Blamage erleidet. Eine Episode reiht der Schauspieler an die andere, fädelt sie auf wie Perlen an einer Schnur. Neissendorfer, Gnettner und Eppinger liefern die Musik dazu. Sie fängt die Stimmung der vorgetragenen Szenen ein, lässt für den Zuhörer auf klanglicher Ebene nachvollziehbar werden, was in der Sprache zum Ausdruck kommt.
Die Musiker spielen Klassiker des Swing, etwa von Cole Porter und George Gershwin. Gnettner zupft die Saiten des Kontrabasses, als ging es um sein Leben. Neissendorfer brilliert am Klavier mit dynamischem Anschlag. Die Musiker schaffen den Rahmen: für die Bedrohlichkeit des Sturms, für das Schwanken des Schiffs, für das unstete Leben an Bord und für die Traurigkeit, die herrscht, als Novecento nach 32 Jahren ankündigt, in New York von Bord zu gehen. Auf der Treppe kehrt er um, geht zurück, spielt weiter für „die Dummköpfe der ersten Klasse“ – so lange, bis das Schiff nach dem Zweiten Weltkrieg außer Dienst gestellt und gesprengt wird.
Novecento bleibt an Bord. Und von Thun lässt das Publikum teilhaben an den Gründen des Protagonisten, verschafft ihm Innensicht, gibt Einblicke ins Denken und Fühlen. Die Geschichte endet dann abrupt. Der Abend auch. Eine Zugabe wird trotz tosenden Beifalls nicht gewährt. Auch das im Programm angekündigte Saxophonspiel von Thuns bleibt ein unerfüllter Wunsch des Publikums.