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Calw -  05.08.2019
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Ian-Anderson-Festspiele: Flötist und Sänger zelebriert 51 Jahre Jethro Tull in Hirsau

Calw-Hirsau. Der Blick schweift über 1400 begeistert klatschende Zuhörer, bleibt vielleicht kurz am in sanften Blautönen angestrahlten Eulenturm hängen, ehe er auf die in satten Rottönen illuminierten Maßwerkfenster des gotischen Kreuzgangs fällt.

Es scheint die besondere Atmosphäre des Hirsauer Klosters zu sein, die Künstler immer wieder zu Höchstleistungen anspornt, die vom Publikum mit stehenenden Ovationen gefeiert werden. Auch Ian Anderson scheint angesteckt vom Hirsau-Virus, singt „Farm On The Freeway“ wie ein junger Gott mit voller, warmer Stimme. Ja, auch das geht – entgegen aller Kritiken. Denn eigentlich ist der Frontman von Jethro Tull eher bekannt für seine knarzigen Interpretationen der berühmten Songs. Sei es – gleich zum Auftakt – „For A Thousand Mothers“ und „Love Story“, von 1969 und 1968. Ja, Anderson feiert den 51. Jahrestag der Band – mit 71 Jahren.

Gleich mehrere Songs aus dem ersten Studio-Album „This Was“ stehen auf dem Programm: „A Song For Jeffrey“, den der Schotte dem ersten Bassisten der Band, dem 2014 verstorbenen Glen Cornick, widmet, „Some Day The Sun Won’t Shine For You“, „Beggar’s Farm“ – der Multiinstrumentalist lässt die alten Zeiten hochleben, als die Band am 2. Februar 1968 ihren ersten Auftritt im legendären Londoner Marquee Club hatte. Bluesgetränkte Songs, die Anderson an der Querflöte, der Mundharmonika und der Gitarre in immer wieder faszinierenden Duetten mit Bassist David Goodier, Keyboarder John O’Hara, Gitarrist Florian Opahle und Drummer Scott Hammond zelebriert.

Ein wilder Ritt durch die Jahrzehnte und Musikstile ist dieser Abend – mit der berühmten Interpretation von Bachs „Bourrée in E Minor“, dem Song „My God“, der der Band im bigotten Amerika der 1970er-Jahre jede Menge Kritik einbrachte, und dem Progressive- Rock-Titelsong des Konzeptalbums „Thick As A Brick“ von 1972.

Fünf Alben und vier Jahre später dann „Too Old To Rock ‘n’ Roll: Too Young To Die!“: Dass er diesen Titel auch heute noch mit ironischem Blick betrachten kann, macht der Schotte in Hirsau während des gesamten Konzerts deutlich. Er wirbelt über die Bühne, steht beim Flötenspiel auf einem Bein und wirft das andere fast bis zur Nasenspitze in die Höhe oder schlenkert in seiner typischen Manier den Unterschenkel – ohne dabei außer Atem zu geraten.

Mit „Pastime With Good Company“, dem im frühen 16. Jahrhundert von König Heinrich VIII. geschriebenen Folksong, gibt es noch einmal ein kurzes Innehalten, ehe es mit „Songs From The Wood“ zunehmend rockiger wird. „Heavy Horses“, das selten gespielte „Warm Sporran“ aus „Stormwatch“, dem letzten der drei Alben der Folkrock-Phase der Band, und „Farm On The Freeway“, dem wuchtigen Kracher von 1987, den David Goodiers Gesang mitprägt. „Aqualung“ begeistert mit einem großartigen Gitarrensolo von Opahle. Und bei „Locomotive Breath“ ist dann kein Halten mehr: Das Publikum ist längst aufgesprungen und feiert die Band, die an diesem Abend ihrer seit 2018 dauernden „50th Anniversary Tour“ völlig auf Video-Einspielungen verzichtet. Aber wer braucht die schon angesichts dieser Kulisse?

Autor: Sandra Pfäfflin