Wiederbelegungsexperte aus Gräfenhausen über Corona-Pandemie: „Wir haben noch viel zu lernen“
Kritische Worte findet der aus Gräfenhausen stammende Professor Bernd Böttiger, Chef der Anästhesiologie und Intensivmedizin an der Uniklinik Köln, für das Corona-Management in Deutschland. Gleichzeitig appelliert er an die Bürger, auch in Zeiten der Pandemie den Mut zur Wiederbelebung nicht zu verlieren.
PZ: Ein Corona-Jahr liegt hinter uns. Die Pandemie war das alles beherrschende Thema. Ist dabei ihr großes Anliegen – die Wiederbelebung in der Bevölkerung zu verankern – ein wenig untergegangen?
Bernd Böttiger: Ich würde fast sagen, ein Corona-Jahr liegt vor uns. Das ist – glaube ich – mindestens genauso zutreffend. Und ja: Im Zusammenhang mit Corona sind in Deutschland bisher rund 53.000 Menschen gestorben – der plötzliche Herz-Kreislauf-Stillstand ist mit mehr als 70.000 Todesfällen jährlich aber immer noch dritthäufigste Todesursache. Das dürfen wir nicht vergessen. Wenn es uns gelingt, die Laien-Wiederbelebungs-Quote von 30 auf über 50 Prozent zu steigern, könnten wir etwa 10.000 dieser Menschen zusätzlich retten.
Corona bedingt wird das Abstandhalten gepredigt. Bei der Wiederbelebung muss ich aber ran an den Patienten. Viele denken an Mund-zu-Mund-Beatmung und haben Angst vor einem Ansteckungsrisiko…
Um es klar zu sagen: Wenn man nichts tut, stirbt der andere! Es gilt, die Zeit bis zum Eintreffen des Rettungsdienstes – im Schnitt neun Minuten – zu überbrücken und per Herzdruckmassage das Gehirn weiter mit Sauerstoff zu versorgen. Das gilt – egal ob mit oder ohne Corona. Mund-zu-Mund-Beatmung ist bei Erwachsenen meist gar nicht nötig, weil im Blut des Körpers noch genügend Sauerstoff vorhanden ist. Natürlich sollte man die aktuelle Corona-Infektionsrate vor Ort im Blick haben und beim Prüfen der normalen Atmung nicht so nahe an den Kopf herangehen wie sonst. Aber 60 bis 70 Prozent aller Herz-Kreislaufstillstände treten zuhause auf. Meist geht es also um Familienmitglieder, die sehr wahrscheinlich denselben Infektionsstatus haben wie man selbst.
Wie haben Sie als Mediziner die Corona-Pandemie bisher erlebt?
Mein Intensivstationsbereich an der Uniklinik Köln ist eine der größten in Deutschland, ich bin in diversen Krisenstäben der Uniklinik und der Stadt. Ich habe in meiner gesamten Laufbahn noch nie so viele sehr kranke und sterbende Menschen auf Intensivstationen gesehen. Das bedrückt mich sehr. Die Menschen, die überleben, haben zu einem nicht geringen Prozentsatz Nachwirkungen was Leistungsfähigkeit, Herz- und Lungenfunktion angeht. Wir haben die größte Gesundheitskrise der letzten hundert Jahre. Und die Politik muss schauen, dass sie nicht daran scheitert.
Was ist schief gelaufen im politischen Corona-Krisenmanagement?
In der ersten Welle haben wir alles richtig gemacht, in der zweiten hat Deutschland versagt. Der Lockdown kam erst, als die Infektionszahlen schon richtig hoch waren, das war zu spät – und auch dann war er nur halbherzig. Dafür zieht er sich nun schon ewig. Das reduziert die Akzeptanz für Maßnahmen. Darüber hinaus ist der Föderalismus zwar gut für die Demokratie – aber auch sehr gut für das Virus. Unterschiedliche Regelungen führen dazu, dass aus jeder Ecke etwas anderes zu hören ist, was jetzt richtig sein soll. Das verwirrt die Menschen. Und ich glaube auch, dass es sehr ungünstig ist, dass dieses Virus jetzt auf ein Superwahljahr trifft. Das führt dazu, dass sich viele Politiker profilieren wollen, um wiedergewählt zu werden und unpopuläre Entscheidungen eher scheuen.
Was muss also passieren, um die Pandemie in den Griff zu bekommen?
Keine Lockerung des Lockdowns. Wir haben die zweite Welle noch nicht gebrochen. Würden wir gerade Schulen, Kitas oder Geschäfte – wie teils gefordert – wieder aufmachen, würde uns das wahrscheinlich um die Ohren fliegen.
Kann man Lockerungen an eine Impfquote koppeln?
Das lässt sich noch nicht solide beantworten. Manche gehen davon aus, dass bei einer Impfquote von 70 Prozent eine Herdenimmunität entsteht. Aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg, denn auch wenn ich mir die Organisation der Impfstoffbestellungen anschaue, fällt mir erst einmal der Berliner Flughafen ein. Wenn ich mir die Vertragsverhandlungen mit den Impfstoffherstellern ansehe, handelt die Politik teils fahrlässig.
War denn wenigstens die Medizin in Deutschland gut auf die Pandemie vorbereitet?
Wir haben ganz sicher eines der besten Gesundheitssysteme der Welt. In Bezug auf die Einwohnerzahl haben wir über dreieinhalb mal so viele Intensivbetten wie Italien – und auch deutlich mehr als Frankreich oder die USA. Wir haben bis jetzt genügend Personal, um die Stationen zu betreiben. Aber Szenarien zeigen, dass die Zahl der Infizierten auch beim Krankenhauspersonal deutlich steigen würden, sollte es zu einer dritten großen Welle mit neuen Virusvarianten kommen.
Können wir am Ende froh sein, dass die Welt Pandemie-Management anhand von Corona lernen durfte? Es lauern ja durchaus noch tödlichere Viren – man denke nur an Ebola…
Man kann vielleicht schon sagen, dass das ein Stresstest für unsere Zivilisation ist. Wenn wir der Natur immer weniger Raum bieten und sie immer weiter ausbeuten, ist es wohl nur eine Frage, wann und wie sich neue Viren ausbreiten. Darauf sind wir in Deutschland noch immer nicht gut genug vorbereitet. Die Afrikaner sind mit dem Ebola-Virus zum Beispiel deutlich besser umgegangen, als wir mit Corona. Da haben wir noch viel zu lernen.
Zur Person: Bernd Böttiger...
…hat seine medizinische Karriere im Krankenhaus Mühlacker begonnen. Ab 1986 war er dort vier Jahre tätig. Seit 2007 ist der 62-Jährige als Direktor der Klinik für Anästhesiologie und Operative Intensivmedizin an der Uniklinik in Köln Chef von rund 200 Ärzten. Böttiger gehört der Wissenschaftsakademie Leopoldina an, die unter anderem die Bundesregierung in Gesundheitsfragen berät, und ist Mitglied in den Präsidien verschiedener Verbände, etwa der Deutschen Intensivmediziner (DIVI), sowie Vorsitzender des Deutschen Rates für Wiederbelebung (GRC). Für seine wegweisenden Forschungen zu diesem Thema wurde er schon mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet.
Prüfen, rufen, drücken - und Leben retten
Wiederbelebung ist eine Bürgerpflicht“, sagt Professor Bernd Böttiger. „Prüfen, rufen, drücken“ lautet das Motto bei einem Herz-Kreislaufstillstand. Hat man eine leblose Person vor sich, prüft man, ob diese noch eine normale, regelmäßige Atmung hat. Ist dies nicht der Fall, ruft man per Telefon den Rettungsdienst über die 112. Dann beginnt das Drücken. Den Oberkörper des Betroffenen freilegen, beide Hände zwischen den Brustwarzen auflegen und den Brustkorb mit ausgestreckten Armen fest fünf bis sechs Zentimeter eindrücken, dann wieder entlasten. Das ganze 100 bis 120 mal in der Minute wiederholen – und zwar, bis medizinische Hilfe kommt. Den richtigen Rhythmus fürs Drücken bietet zum Beispiel der Song „Stayin alive“ von den BeeGees. Die Herzdruckmassage sorgt dafür, dass das Blut weiter durch den Körper gepumpt und das Gehirn mit Sauerstoff versorgt wird.
Um die Laien-Wiederbelebung in der Bevölkerung zu verankern und auch schon Schüler darin auszubilden, hat Böttiger unter anderem im vergangenen Jahr bei der Sparkasse Pforzheim die Deutsche Stiftung Wiederbelebung gegründet, über die Spender seine Bemühungen unterstützen können. Unter dem Motto „My song can save lives“ haben auch Musiker – von den Wiener Philharmonikern mit dem „Radetzky Marsch“ bis zu Culcha Candela mit „Hamma!“ – in den sozialen Medien für die Wiederbelebung geworben.