Fördernd oder völlig daneben? Reform im Jugendhandball sorgt für viel Ärger
Pforzheim. Die Reform des Deutschen Handballbundes bei den E-Jugendlichen stößt teils auf großes Unverständnis. Das sagen Betroffene von Vereinen aus der Region.
Ist das jetzt fördernd oder völliger Blödsinn? Die neue E-Jugend-Reform des Deutschen Handballbundes (DHB) sorgt für hitzige Diskussionen – und nicht für Begeisterung auf allen Seiten.
Seit dieser Saison reicht es im E-Jugend-Handball nicht mehr, einfach nur mehr Tore als der Gegner zu werfen. Entscheidend ist jetzt auch, wer besser balanciert, springt oder zielt. Neben den Treffern fließen Punkte aus sogenannten Koordinationsübungen in die Wertung ein.
Das Ergebnis: Wer auf dem Feld haushoch gewinnt, kann am Ende trotzdem nur ein Unentschieden verbuchen – oder gar verlieren.
Entscheidend für Entwicklung
Der DHB begründet die Reform mit einem pädagogischen Ansatz. In der E-Jugend, also bei Neun- und Zehnjährigen, gehe es nicht vordergründig ums Gewinnen, sondern auch um Bewegung, Spaß und Grundlagen. „Die Kinder sollen spielerisch vielseitige Bewegungserfahrungen sammeln. Koordination ist in diesem Alter entscheidend für die spätere sportliche Entwicklung“, heißt es vom Verband.
Konkret bedeutet das: An jedem Spieltag absolvieren die Teams ihre Handballspiele – und danach Koordinationsstationen. Dort werden Punkte für Gleichgewicht, Reaktion, Wurfpräzision oder Ballgefühl vergeben. Spiel- und Übungsergebnisse werden anschließend zusammengezählt. Ein Sieg auf dem Feld garantiert also längst keinen Sieg auf dem Papier.
Was in der Theorie pädagogisch klingt, sorgt in der Praxis für Ärger. Viele Trainer, Eltern und Kinder schütteln den Kopf.
„Unsere Jungs haben klar gewonnen – und trotzdem standen sie am Ende als Verlierer da. Das versteht kein Kind“, sagt Christian Bürkle, Trainer der E-Jugend des TV Ispringen. Kürzlich bei der Partie in Weissach hatten seine Nachwuchsspieler 30:18 gewonnen, doch jubeln durften sie erstmal nicht.
Während der TVI auf dem Feld dominierte, hatten die Weissacher beim anschließenden „Über-die-Bank-Hüpfen“ oder „Ball-durch-den-Reifen-Werfen“ die Nase vorn. „Das ist eine Farce“, schimpft Bürkle. „Die aktuelle Wertung ist absurd, ungerecht und frustrierend. Die Kinder wollen doch auch mit ihren Eltern den Sieg feiern, die Welle machen nach einem Spiel. All das fällt weg, weil ja noch die Koordinationsübungen bevorstehen. Für Emotionen gibt es also gar keinen Platz mehr“, ärgert sich der Ispringer Coach.
Auch der organisatorische Aufwand treibt vielen Trainern den Schweiß auf die Stirn. Stationen aufbauen, Zeiten stoppen, Punkte notieren, Durchschnittswerte berechnen – das alles nach dem Spiel. „Das kostet extrem viel Zeit und ist für kleine Vereine mit wenigen Helfern kaum zu stemmen“, weiß Bürkle. Er braucht dafür zwei Trainer, zwei Vereinsverantwortliche und dazu noch zwei Eltern – also insgesamt sechs Helfer.
Fachlich sei die Idee mit den Koordinationsübungen nicht verkehrt, gibt der Coach zu. „Das ist schon wichtig, aber es sprengt eben komplett den Rahmen.“
Sportpädagogen betonen seit Jahren, wie wichtig koordinative Fähigkeiten für Technik und Spielverständnis sind. Doch die Umsetzung als offizielles Wertungssystem empfinden viele als überpädagogisch und praxisfern. Bürkle bringt es auf den Punkt: „Koordination gehört ins Training – aber nicht in die Spieltagswertung.“
Das sieht auch Lisa Pfaff so. „Ich verstehe den Hintergedanken des Handballverbands, nur die Umsetzung ist fragwürdig“, sagt die Trainerin der E-Jugend vom HC Neuenbürg. Auf- und Abbau am Spieltag würden enorm viel Zeit kosten. Sie bezeichnet es als „Zumutung für die Eltern“, die an einem Spieltag bis zu drei Stunden in der Halle sitzen müssen. Und wenn die Kinder das Spiel gewinnen, aber bei den Übungen verlieren, dann „geht irgendwann mal die Motivation flöten.“
Ihr Vorschlag: zweimal in der Saison einen Koordinationstag veranstalten, losgelöst vom Handballspiel. „Das wäre okay“, sagt die HCN-Trainerin. Kollege Bürkle findet die Idee ebenfalls klasse.
Lipps sieht es differenzierter
Alexander Lipps, Trainer der SG Pforzheim/Eutingen, sieht das Ganze etwas differenzierter. „Kinder werden koordinativ immer schwächer“, sagt der erfahrene Coach. Den pädagogischen Ansatz findet er „nicht ganz falsch“. Der Aufwand sei zwar größer, aber: „Es wird ja nicht weniger Handball gespielt.“ Und auch sonst gebe es ja kuriose Ergebnisse – etwa durch die Torschützen-Multiplikation, indem die erzielten Tore eines Teams mit der Anzahl der verschiedenen Torschützen multipliziert wird. Da geht ein Spiel dann schon mal 210:54 aus.
Der DHB will an der Reform vorerst festhalten. Die ersten Erfahrungen sollen gesammelt und ausgewertet werden. Lisa Pfaff hofft, dass das Konzept schon nach der Vorrunde auf den Prüfstand kommt.
Die Reform zeigt jedenfalls, wie groß die Lücke zwischen pädagogischem Idealismus und sportlicher Realität sein kann. Koordination ist wichtig – keine Frage. Aber im Handball sollte der Handball im Mittelpunkt stehen. Sonst geht irgendwann das verloren, worum es eigentlich geht: die Freude am Spiel.
Zur Info:
Die Testung der Koordination (koordinativ-motorischer Wettkampf) ist seit dieser Saison ein fester Bestandteil des Spielbetriebs bei den E-Jugend-Handballern und muss durchgeführt werden. Dafür müssen an den Spieltagen immer drei Übungen aus dem Katalog des Baden-Württembergischen-Handballverbandes (insgesamt 24 Übungen) absolviert werden. Dazu gehören unter anderem Übungen wie Seilspringen, Kriechen durch einen Mattentunnel, Medizinballstoßen oder auch Balancieren. Alle Spielerinnen beziehungsweise Spieler müssen drei Übungen ausführen, dabei geht es auf Zeit, Wiederholungen oder Genauigkeit. Gewertet werden allerdings nur die besten sieben Kinder. Die Spieler erfahren hinterher nicht, wer in die Wertung genommen wird. Hat eine Mannschaft also das Handballspiel verloren, kann es durch den Sieg bei den Koordinationsübungen noch ein Remis am Spieltag erreichen.
